Was ich schon lange loswerden wollte
Seit das Self-Publishing boomt und mittlerweile seltsame Blüten trägt, erheben sich nicht nur Moral- sondern auch Lektorats- und Rechtschreibapostel.
Ich rede hier nicht von den hauptberuflichen Lektoren, gewissenhaften Autoren und aufmerksamen Lesern, die einen guten Job machen, sondern den selbsternannten Hütern der Orthographie und Interpunktions-Gurus. Es sind diejenigen Personen, die jeden Text ausschließlich nach Grammatik, Stil, Tippfehlern und Zeichensetzung beurteilen. Der Inhalt und die Aussage werden bei ihrer oft harschen Kritik nahezu störende Nebensache.
Bei Belletristik kann ich das alles noch mit viel Toleranz nachvollziehen, doch bei Lyrik zieht es mir regelmäßig die Schuhe aus, wenn ich gewisse Kommentare unter Gedichten lese.
Besonders lieb gewonnen habe ich Personen, die ihre Beiträge mit „Normalerweise lese ich keine Lyrik, aber— einleiten und mit “ist falsch, muss korrigiert und sowieso lauten.“ beenden. Mit oft sehr plumpen Argumenten werden fehlende oder falsche Kommas bemängelt, Großschreibung zu Beginn einer Zeile moniert, Bindestriche kritisiert und zusammenhangslos auf Versmaß, Rhythmus und Reimschema hingewiesen. Der Inhalt interessiert nicht mehr. Gedichte werden auf scheinbare Fehler reduziert. Unternimmt man den Versuch gerade diese Personen darauf hinzuweisen, dass man für Lyrik nicht unbedingt dieselben Maßstäbe ansetzen darf wie für Belletristik, wird man mit Begriffen wie Unprofessionalität und Möchtegern niedergeknüppelt. Auch der Versuch zu erläutern, das scheinbare Fehler gewollt sind, interessiert diese Personen überhaupt nicht. Interpretation Fehlanzeige, dafür aber eine riesige Klappe. Mancher Troll ist ein flauschiges Kampfhörnchen dagegen.
Inhalt uninteressant?
Es wird selten ein Gedanke daran verschwendet, ob der Verfasser sich bei der Darstellung seines Gedichtes irgendetwas gedacht hat. Zeit nehmen sich die Personen nicht, um den Text inhaltlich zu betrachten. Das Stilmittel wird zum schnöden Rechtschreibfehler. Sinn gebende Kommas haben ein schweres Los und bestehen nur im Ausnahmefall die Prüfung. Es verwundert also nicht, wenn immer mehr Autoren auf solche Beiträge und Kritik einfach nicht mehr reagieren. Warum auch? Selbstverständlich kann das als Arroganz oder Desinteresse am Leser ausgelegt werden, aber an welcher Stelle sollte man den Dialog ansetzen und zu welchem Ziel sollte es führen? Einzig und allein den Korrektor zufrieden zu stimmen? Würden sich die Verfasser der Gedichte an all die gut- und besser gemeinten Tipps der so wohlwollend Kommentierenden halten, wären die meisten Gedichte vollkommen für den Arsch.
Dieser Text ist korrekt,
leider ohne Effekt.
Interpretation nur auf bekannter Ebene?
Wir sehen gerne, was wir sehen wollen und zuerst die Dinge, die offensichtlich scheinen. Der Mensch ist diesbezüglich sehr einfach gestrickt. Da uns bereits seit der ersten Klasse die korrekte Rechtschreibung und Zeichensetzung eingetrichtert wird, liegt wohl der Augenmerk genau auf diesen Dingen. Hier glauben wir uns bestens auszukennen. Im Grundsatz ist das nicht verkehrt, allerdings neigen wir so dazu, alle Schriftstücke nach demselben Schema zu lesen, zu korrigieren und zu bewerten. Werden wir durch schulische und berufliche Ausbildung wirklich so unflexibel bei der Betrachtung von Texten oder wollen hier einige Personen zwanghaft die absolute Regelkonformität wahren? Können wir Schriften nur unter Einhaltung aller Regeln verstehen und deuten? Zwingt uns die Gewohnheit oder die Liebe zur Ordnung dieses Verhalten auf? Wir beschweren uns gerne über die Gleichschaltung der Presse, über die Uniformierung des Denkens, einen beschränkten Horizont und naive Sichtweisen. Trotzdem verhalten wir uns genau nach diesen Prinzipien, die wir gerne verteufeln.
Dieser Text ist korrekt.
Leider ohne Effekt.
Zwischen fehlerfrei und Fehler frei
Das alles soll nicht heißen, dass Gedichte grundsätzlich fehlerfrei geschrieben werden und jeder Patzer in Rechtschreibung und/oder Zeichensetzung als künstlerische Freiheit und Interpretationssache durchzugehen hat. Doch bevor man einen Kommentar zu einem Gedicht schreibt, sollte man sich wenigstens die Mühe machen, den Text einmal ohne die bekannten Regeln zu betrachten. Besonders wenn man seine Beiträge mit Begriffen wie Jamben und Trochäen ausschmückt, sollte man im Geist dem gebrochenen Rhythmus etwas Aufmerksamkeit schenken, ebenso dem unsauberen Reim. Vielleicht wird so mancher erstaunt sein, was er plötzlich zu lesen und sogar zu sehen bekommt.
Dieser Text
Ist korrekt
Leider
Ohne Effekt.
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