Die Wut, die bleibt
Mareike Fallwickl
Drei Frauen: Die eine entzieht sich dem, was das Leben einer Mutter zumutet. Die anderen beiden, die Tochter und die beste Freundin, müssen Wege finden, diese Lücke zu schließen. Ihre Schicksale verweben sich in diesem bewegenden und kämpferischen Roman darüber, was es heißt, in unserer Gesellschaft Frau zu sein.
Plötzlich ist Sarahs beste Freundin, Helene, weg. Sie läßt ihre jugendliche Tochter und die zwei kleinen Söhnen zurück. Der Vater der beiden Jungs ist hilflos, seine alte Mutter ist mit den Kindern und ihren eigenen Krankheiten völlig überfordert. In den Ausläufern der Corona-Pandemie übernimmt die erfolgreiche Autorin schließlich die Rolle der Mutter. Sie kümmert sich um Haushalt und Kinder, wird Bezugsperson für die Kinder. Dabei gerät sie über ihr eigenes Leben, das sie mit einem jungen gutaussehenden Mann führt, ins Nachdenken. Als die ältere Tochter und sie bezüglich des Frauseins und deren Stellung in der Gesellschaft immer öfter aneinandergeraten, muss Sarah ihre gefestigten Überzeugungen in Frage stellen, dabei hält sie sich selbst für emanzipiert und feministisch. Doch da scheint sich viel mehr getan zu haben. Für die junge Lola und die reife Sarah beginnt eine Zeit von schmerzlichen, aber auch heilsamen und schönen Erfahrungen, die für beide Umbrüche bedeuten.
Auf 373 Seiten präsentiert die Autorin eine Geschichte zweier Generationen der Neuzeit. Dabei steht die Frauenrolle in der Gesellschaft im Fokus. Denn obwohl die westliche Welt viel über Emanzipation, Gleichberechtigung und Feminismus spricht und diese Themen zuweilen stark propagiert, deckt Fallwickl in ihrem Buch die weiterhin etablierten Denkweisen und Verhaltensmuster auf, die ebenso gut aus dem 19. und 20. Jahrhundert stammen könnten und immer noch als selbstverständlich von Mutter auf Tochter übergeben und vorgelebt werden.
Ihre Protagonistinnen sind kaum 30 Jahre im Alter auseinander und teilen einige, aber nicht genügend Überzeugungen, was das Frauenbild des 21. Jahrhunders ausmacht. Sie reiben sich aneinander und zugleich helfen und stützen sie sich. Gemeinsam ist ihnen dennoch das Bewusstsein, dass die jetzige Gesellschaft von Frauen ein bestimmtes Bild zeichnet, dass sie beide in Ecken drängt, wo sie schon lange nicht mehr hingehören. Neben der Wut über die Ungerechtigkeiten teilen sie eine Verbundenheit, die es unter Frauen viel öfter geben sollte.
Beide finden neue Wege, sich als Frau zu positionieren und mit veralteten Bildern aufzuräumen.
Fallwickel geht in ihrer Erzählung geschickt mit der Gesellschaft und den Frauen hart ins Gericht. Sei es das Aussehen und der Schlankheitswahn, das Schweigen und die Scham bei Übergriffen durch Männer oder die Selbstverständlichkeit, mit der angenommen wird, dass Frauen gerne Mutter und Hausfrau sind. Oft trifft sie dabei die Leser*innen auf emotionaler Ebene, die nicht selten dazu bewegt, das Buch beiseitezulegen und über das Gelesene in Ruhe nachzudenken. Sie legt den Finger in so manche Wunde und untergräbt mit raffinierten, da alltäglichen Situationen die Überzeugungen ihrer Protagnistinnen.
Fazit: Ein Buch, das durchaus wütend macht, aber auch solidarisch. Es zeigt die Fallstricke unserer Zeit auf, in denen sich die Frauen weiterhin wie selbstverständlich in alten Rollenbildern befinden. Kurzweilig und anklagend, zuweilen schmerzlich. Sehr lesenswert.
Eigene Meinung
Diese Rezension greift nur ein paar Aspekte auf, die in diesem Buch von der Autorin verarbeitet wurden. Es ist ein kompaktes Werk an Gesellschaftskritik. Ein Appell an Frauen, sich endlich zu wehren, aber auch zu solidieren. Es ist ein Brückenschlag zwischen Müttern und Töchtern und was wir ohne Vorwürfe voneinander lernen können.
Sehr gefallen haben mir die Themen rund um den Schlankheitswahn, aber auch um das Selbstverständnis, dass jeder Frau das Mutterdasein gefällt und ihr Leben ausfüllt. Auch der Fingerzeig, dass Mädchen dazu erzogen werden still zu sein, sich nicht zu wehren und sich für Übergriffe eher zu schämen, anstatt sie anzuprangern, führt die Autorin treffend auf. Besonders überzeugt hat mich die Konfliktwelt der gestandenen Frau, Sarah. Sie ist ein Paradebeispiel für mich. Reif, erfolgreich, eigentlich selbstbewusst und trotzdem macht sie sich selbst das Leben schwer, um einem jüngeren Mann zu gefallen, um ihn zu halten. Dabei gibt er ihr abgesehen von durchschnittlichem Sex nichts, außer vielleicht noch das Gefühl nicht allein zu sein. Die Zuspitzung dieses Konflikts zwischen der doch starken Frau und dem „depperten“ Mann ist in dem Buch ausgesprochen genial verarbeitet. Dafür feiere ich die Autorin sehr.
Einige Szenen jagten wie Pistolenkugeln durch meine eigene Gedankenwelt. Ich fand mich in den Ereignissen wieder, damals als junges Mädchen und auch als Frau und Mutter. Wir sollten viel öfter, unsere Meinung laut äußern, anstatt des Anstands wegen pikiert zu schweigen.
Fazit: Ein genialer Gegenwarts-Roman, den ich verschlungen habe, auch wenn ich das Buch einige Male weglegen musste, um die eigenen Gedanken und auch Glaubenssätze zu sortieren. Es rüttelt auf, bewegt und macht Spaß, sich mit schwierigen Themen auseinanderzusetzen.
„…Und wie praktisch, nicht wahr, dass die Menschen ein System geschaffen haben, in dem Arbeitenmüssen über allem steht.“
„…Das sind Momente, in denen man sich nicht umarmen kann, weil sonst aufplatzt, was mühsam zugetackert wurde.“
„…Sie darf seine Anti-Familie-Haltung nicht unterfüttern und nicht zulassen, dass er sie als minderwertige Frau, als schlechte potenzielle Mutter wahrnimmt.“
„…Vielleicht bist du so geprägt vom Patriarchat, dass du selbst glaubst, eine Frau, die sich emanzipiert, gehört bestraft.“
„…Ihn hat niemand gelehrt, wie er sich kleiden muss, damit er keine Aufmerksamkeit erregt.“
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