Freut Euch nicht zu spät
Janice Jakait
Wir leben, als wäre unsere Zeit auf diesem Planeten eine Fingerübung und das eigentliche, richtige Leben käme irgendwann später. Angestrengt mit Selbstoptimierung beschäftigt, kommen wir überall hin, aber nirgends mehr an, können alles erreichen, doch nichts stellt uns zufrieden. Wir sind überall, bloß nicht dort, wo das Leben tatsächlich stattfindet – in der Gegenwart.
In ihrem zweiten Buch, das insgesamt acht Kapitel umfasst, berichtet Janice Jakait, was danach geschehen ist. Nachdem sie alleine in einem Ruderboot den Atlantik überquert hat. Sie befasst sich mit den Erfahrungen und Gedanken nach dem großen Abenteuer und was man persönlich daraus mitnehmen kann, wenn man wieder in den Alltag zurückkehrt.
Sie übt Kritik an der Gesellschaft und auch an unserer Art zu leben, wobei es weder um Umweltverschmutzung noch Ernährung geht. Vielmehr geht es um den Menschen an sich. Was treibt uns und vor allem wohin? Welchen Illusionen und Meinungen geben wir uns hin? Auf was laufen wir zu? Und dabei stehen die Ziele, Wünsche und Vorstellungen nicht im Vordergrund. Es geht darum, wie wir den Weg dorthin bestreiten und gestalten.
Dabei greift sie viele Aspekte auf, mit denen wir uns alle auseinandersetzen: Was denken die anderen? Was wird passieren? Was haben Gott und Glaube damit zu tun? Was hält mich davon ab, das oder jenes zu tun? Auch die Auswüchse der heutigen Zeit, nämlich das dringliche Getriebenwerden von dem Wunsch sich selbst zu finden und zu verwirklichen ohne genau zu wissen, was genau dahinter steckt.
Letztendlich geht es um genau eine Sache. Es gibt nur das hier und jetzt. Die Botschaft ist klar: Zerdenkt nicht euer Leben, sondern lebt es. Es gibt nichts zu verlieren.
Jakait schreibt ohne zu belehren. Weder erhebt sie lehrerhaft den Finger, noch verteufelt sie andere Ansichten oder Lebenswege. Vielmehr zeigt sie in diesem Buch den eigenen Weg auch anhand unterschiedlicher Beispiele, wie man wieder bewusster mit sich und seinen Gedanken umgehen kann. Allerdings ist dieses Buch kein Ratgeber, der einem aufzeigt, wie man in 10 Schritten ein glücklicher oder zufriedener Mensch wird. Es ist eher ein Anstoß zum nachdenken, überdenken und innehalten. Und dies macht die Autorin auch ganz klar, indem sie in einem Kapitel schreibt, dass man eben nicht über den Atlantik rudern muss, um zu sich selbst zu finden. Jeder sollte eher nach seinem eigenen Weg suchen und genau dies sei der Beginn.
Wie bereits Tosende Stille ist auch dieses Buch sehr schön gestaltet. Besonders gefallen haben mir die kleinen Zitate, die immer wieder in den Kapiteln hervorgehoben dargestellt werden.
Es mag etwas irritierend sein, dass dieses Buch ausgerechnet in der Rubrik „Esoterik“ auf amazon eingetragen ist. Dies mag aber der ursprünglichen Bedeutung des Wortes geschuldet sein, nicht aber der heutigen Verwendung des Begriffs.
Eigene Meinung
Dieses Buch liest sich so, als hätte man es selbst geschrieben oder bereits mehrfach gelesen, aber alles wieder vergessen und plötzlich stellt man fest: Das habe ich doch schon längst gewusst und wenn nicht, dann zumindest geahnt.
Ausgesprochen gut haben mir die Passagen über die Ansichten und Werte unserer heutigen Gesellschaft gefallen. Gerade in den Zeiten, in denen anscheinend jeder so unglaublich „fucking individuell“ sein will, gleichen sich die meisten einander nur noch mehr an. Alle die gleichen Marken, Frisuren, Lebenseinstellungen, Jobideen und Lebensziele. Wir wollen unabhängig sein, aber nur solange das Geld von Mama und Papa reicht. Irgendwo zwischen political Correctness, Fairtrade und Gender-Mainstreaming versuchen wir herauszufinden, wer wir sind und immer begleitet von der Angst, vielleicht doch nicht so korrekt zu sein, wie es gerade Trend ist. Und genau dann passiert es tatsächlich: Wir leben das Leben der anderen oder das, von dem wir denken, dass es das Leben ist. Halt alles, bloß nicht das eigene.
Dieses Buch ist ein schöner Appell an die Besinnung auf das, was uns als Individuum ausmacht. An das Bewußtwerden der eigenen Vergänglichkeit und der Freiheit, die wir uns immer weniger zutrauen.
Lesens- und empfehlenswert!
“Es gibt keine Wahrheit, nur unsere Meinungen über die Wirklichkeit. Wenn ich wirklich begreifen will, muss ich es leben oder erleben.…..“
“Wo es dem Einzelnen heute so schwer wie nur irgend möglich gemacht wird, wirklich anders zu sein und auszubrechen, stellt sich folgende Frage: Rechtfertigt die Gemeinschaft das aus Überheblichkeit, weil sie felsenfest davon überzeugt ist, dass schon alles bestens so ist und nur niemand aussteigen sollte?…“
“Und geht dem Kopfkino der Stoff aus, holen wir uns von irgendeinem Bildschirm neue Geschichten aus dem letzten Winkel der Welt und spinnen sie uns irgendwie zu einer eigenen Geschichte zusammen….“
“„Und warten wir nicht noch immer insgeheim auf den Prinzen und die Prinzessin auf dem weißen Ross? Stattdessen: vierzehnjährige Mädchen, die wie erwachsene Frauen herumlaufen, und erwachsene Frauen, die alles dafür tun, damit sie so faltenlos wir vierzehnjährige Mädchen aussehen – ist das das neue Erwachsen?—
“Wir stecken in der „Hölle des Gleichen“, wie es der Philosoph Byung-Chul Han in nur drei Wochten in seinem lesenswerten Buch Die Transparenzgesellschaft beschreibt—
Ich bedanke mich vielmals bei der Autorin und dem EUROPA Verlag für dieses tolle Buch.
ISBN: 978-3-95890-024-0
Mehr über die Autorin auf jakait.com
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