Sand

Wolfgang Herrndorf

Er aß und trank, bürstete seine Kleider ab, leerte den Sand aus seinen Taschen und überprüfte noch einmal die Innentasche des Blazers. Er wusch sich unter dem Tisch die Hände mit ein wenig Trinkwasser, goss den Rest über seine geplagten Füße und schaute die Straße entlang. Sandfarbene Kinder spielten mit einem sandfarbenen Fußball zwischen sandfarbenen Hütten. Dreck und zerlumpte Gestalten, und ihm fiel ein, wie gefährlich es im Grunde war, eine weiße, blonde, ortsunkundige Frau in einem Auto hierherzubestellen…

Sand
Nordafrika 1972. Es ist heiß, es ist sandig und wer die Polizei nicht unbedingt rufen muss, der lässt es bleiben. Kein Wunder also, dass auf dem Zentralkommissariat gelassene Stimmung herrscht, bis zu dem Tag, an dem ein mutmaßlicher Mörder ins Revier geschleift wird. Er soll für einen Bastkoffer Geld in Tindrima vier Leute erschossen haben. Für Polidorio, seinen Kollegen Casinades und die anderen des Kommissariats wäre das ein landestypischer Fall, doch bei den Toten handelt es sich ausgerechnet um Angehörige einer europäischen Kommune, so dass die Presse ein besonderes Auge auf die Ermittlungen wirft. Während die Polizei halbherzig probiert den Fall zu lösen, erwacht mitten in der Wüste auf dem Dachboden einer Scheune ein Mann. Er kann sich an nichts erinnern, nicht einmal an seinen Namen. Mit einer blutenden Wunde am Hinterkopf flieht er vor vier Verfolgern. An einer Tankstelle gabelt ihn die gutaussehende Helen auf und nimmt ihn mit zu ihrem Bungalow. Sie nennt ihn Carl, damit er überhaupt einen Namen hat. Mit ihrer Hilfe versucht er seiner Identität auf die Spur zu kommen. Doch je mehr sie über ihn herausfinden, umso mysteriöser wird die Geschichte. Ist er in Wirklichkeit ein Spion oder Schwerverbrecher? Und was hat eigentlich die Kommune mit der ganzen Sache zu tun?

In kurzen Kapiteln, fast wie mit Szenen eines Films, erzählt Herrndorf die Geschichte eines Mannes, der sich an nichts mehr erinnern kann. Schon bald findet sich der Leser in einer Mischung aus Spionage- und Psychothriller wieder. Schnell wechselnde Szenen und Personen halten den Leser am Ball und treiben die Handlung von mehreren Seiten voran. Das kann am Anfang etwas verwirren, aber hier hilft die bereits erwähnte Unterteilung in Kapitel. Doch schon bald ergibt sich aus den Mosaiksteinchen ein Muster. Außerdem hat Herrndorf mit Carl einen Protagonisten geschaffen, dem jeder aufmerksame Leser helfen will. Passend zur Handlung sind die Sprache, eine unglaublich bildliche Darstellung und eine Situationskomik, die an vielen Stellen gewollt ins Tragische kippt. Nicht immer leicht, aber fesselnd geschrieben.

Eigene Meinung
Was für ein Buch! Schon lange konnte mich kein Roman so fesseln, dass ich ihn angefangen und nicht mehr aus der Hand legen wollte. Allerdings erst nach 130 Seiten. Herrndorf baut die Handlung mit so vielen Strängen auf, dass man schon sehr gut aufpassen muss, um überhaupt mitzukommen, aber die Aufmerksamkeit wird mit einer so kuriosen und packenden Geschichte belohnt, dass die restlichen 340 Seiten nur noch verschlungen werden.
Wer mit „Sand“ eine ähnliche Geschichte wie „Tschick“ erwartet, wird wahrscheinlich sehr enttäuscht sein. Die zwei Romane haben, bis auf das phantastische Gefühl für Sprache und Talent den Leser in das Geschehen zu ziehen, nichts gemeinsam. Das mag wohl die vielen schlechten Kritiken erklären.

Eine weitere Erklärung kann sein, dass Leser, die die Hintergründe zur Entstehungszeit dieses Werkes nicht kennen, ihn vielleicht anderes lesen. Dies aber nur als Vermutung. Im Gegensatz zu „Tschick“ ist dieser Roman wirklich schwere Kost. Düster, voller Hoffnung und trotzdem niederschmetternd. Kaum ein Autor schafft es mit wenigen Sätzen, so großartige Bilder zu zeichnen oder auf einer halben Seite eine Figur zu zeichnen, für die andere zehn brauchen. Ein Meisterwerk, das Herrndorf uns noch hinterlassen hat. Danke!

“Helen Gliese, die mit weißen Shorts, weißer Bluse, weißem Sonnenhut und riesiger Sonnenbrille an der Reling der MS Kungsholm lehnte, mit halboffenem Mund Kaugummi kauten und auf das Gewimmel der Menschen an sich nährenden Ufer schaute, konnte man in zwei Worten beschreiben: schön und dumm. Mit dieser Beschreibung konnte man einen Fremden zum Hafen schicken und sicher sein, dass er unter Hunderten Reisenden die Richtige abholen würde—

“Neben vielem anderen fanden sie Gehirntätigkeit unmännlich. Das sagte natürlich so keiner. Aber Wissenschaft stand in unscharfer Opposition zu den großen Idealen von Stolz, Ehre, und Ramtamtamtam. Wissenschaft war für Weiber. Konntest du einer Frau hundert Dollar geben, un sie stampfte eine Näherei mit acht Angestellten aus dem Boden. Konntest du einem Mann hundert Dollar geben: Bürgerkrieg—

“Glaubst du, du wirst deinem Schöpfer eines Tages gegenübertreten und sagen: Hey, ich bin der Mann, den sie Zange nannten, aber was ich gemacht hab, ist verzeihlich, weil, ein atheistischer Jude und ein Scheißpsychiater mit Vollbart haben das Gleiche gemacht? …“

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