In stillen Nächten
Till Lindemann
Bekannt ist Till Lindemann vor allem als Sänger (und Texter) der Band „Rammstein“. Weniger bekannt ist, dass er unabhängig davon seit über 20 Jahren Lyrik schreibt – Gedichte, von denen zwar einige zu Songs geworden sind, die aber als Gedichte ihr ganz eigenes Leben haben.
Bereits im Jahr 2002 erschien das erste Buch mit Gedichten Lindemanns unter dem Titel „Messer“. Nach elf Jahren präsentiert er mit 97 Textstücken sein zweites Buch „In stillen Nächten“.
Mit diesem Band lädt Lindemann zu einem Spaziergang durch die Gesellschaft. Einige Gedichte sind gut verpackte Beobachtungen, andere erzählen von Zeit, insbesondere der Vergänglichkeit, Liebe, natürlich der Lust, die Lindemann sehr gerne thematisiert, des Menschseins mit seinen Schwächen und Eitelkeiten. Auch finden sich in diesem Band Kurzgedichte, aus drei bis fünf Zeilen, die ganze Geschichten erzählen wie beispielsweise „Schade“. Hier zeigt sich Lindemanns Gespür für Sprache und das Zeichnen von Bildern mit wenigen Worten. Nicht immer benutzt er dazu Metaphern, bedient sich aber interessanterweise bekannter Redewendungen, was nicht als Kritikpunkt zu werten ist.
Wie bereits in „Messer“ finden sich auch in diesem Band einige schwierige und harte Texte, die besonders Tabuthemen behandeln und Kritik an der Ignoranz unserer Gesellschaft üben. In diesem Zusammenhang sei „Wenn Mutti zur Arbeit geht“, „Er und sie“ und „Reste essen“ zu nennen. Gerade die direkten Aussagen machen die Texte zwar klar, aber auch ein Stück weit brutal. Ihre Wirkung verfehlen sie somit nicht.
Im Kontrast zu den oft nachdenklich stimmenden und oft auch melancholischen Stücken stehen einfache und leichte Texte wie „Alles ist naß“, „Wichtig“, „Spring“ und „Wahre Freude“, die aus dem Alltag gegriffen sind, und es gelingt dem Autor hervorragend, die simplen Dinge zusammenzuführen, sodass ein Gedicht entsteht. Der Humor, den Lindemann in diesen Stücken zeigt, ist gespickt mit gesunder Selbstironie. So fällt es nicht schwer, bei diesen Gedichten herzlich zu lachen.
Keine pompöse und hochliterarische Sprache, dafür intelligent und prägnant. Lindemann schreibt verständlich, aber nicht einfach. Die Aussagen sind oftmals versteckt, sodass man nochmals hinlesen muss, will man sie erkennen. Gedichte, die den Leser zur Aufmerksamkeit auffordern und ihn dafür mit Humor, Witz, interessanten Sichtweisen und Gedanken belohnen. Ausgesuchte Illustrationen von Matthias Matthies ergänzen die Seiten und passen sehr gut zum Inhalt. Schön zusammengestellte Gegenwartslyrik, die durch ihre Ehrlichkeit besticht. Ein stimmiges Bild.
Eigene Meinung
Messer war brutaler, metaphorischer, dunkler. Ein Blick auf die Vergangenheit und die Vergänglichkeit, voller Wehmut und an manchen Stellen beinahe verletzlich. Dies mag auch die Widmung an den Vater im ersten Buch erklären. Im neuen Band ist übrigens keine zu finden.
„In stillen Nächten“ behandelt wesentlich stärker das Hier und Jetzt, wobei auch in diesem Band Lindemann den Aspekt der Zeit nicht auslässt. Ein Zustandsbericht, leicht, amüsiert. An einigen Stellen sehr kritisch, aber immer mit einem Hauch Ironie.
Liest man Lindemann, fühlt man sich mit jedem Gedicht in eine Szene gestoßen. Steht als stiller Beobachter. Lacht, weint, teilt und wundert sich. Nicht selten will man zustimmen. Das schönste, vielleicht für einige Leser das schlimmste ist, sich in Lindemanns Gedichten tatsächlich einmal selbst wiederfinden zu können und dabei zu lachen.
An Lindemanns Werken gefällt mir die Sprache. Wo andere sich verklausulieren, mit Fremdwörtern und zum Teil absurden Wortgebilden versuchen ein Bild zu transportieren, schafft es der Autor mit einem wie “entbüben”. Das ist es auch, was die Lyrik tatsächlich ausmacht. Sie möchte trotz der Kunst des Reims und der Sprachfertigkeit verstanden werden, vor allem wenn sie von Dingen erzählt, die uns bewegen.
Meine momentanen Lieblinge aus diesem Buch sind definitiv „Wer ist es“, ein kurzer Reim zum Selbstgespräch über den ich mich köstlich und lange amüsiert habe, bei „Kindheit“ ist die Metapher des Baumes wunderschön, wahr und so traurig, dass ich das Gedicht richtig lieb gewonnen habe. Und das letzte möchte ich gerne vorstellen:
Kunst
Es tut sehr sehr gut
Wenn jemand deine Kunst versteht.
Einen besonderen Dank an den Verlag Kiepenheuer & Witsch für dieses Rezensionsexemplar. Welch ein Lesevergnügen nicht nur für einige Nächte, sondern gerne immer wieder!
Kiepenheuer & Witsch – ISBN 978-3462045246
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