Eigentlich wollen wir alle Rosen sein
Schreibst Du bitte in mein Poesiealbum?
Was haben wir uns in der Schulzeit für eine Mühe gegeben, wenn es darum ging in das Poesiealbum einer Klassenkameradin zu schreiben. Zwischen der dritten und achten Klasse war das eine Wissenschaft für sich, einen beeindruckenden Eintrag in solchen Büchern zu hinterlassen. Es wurden Hilfslinien mit hauchdünnem Bleistiftstrich auf die weißen Blätter gezogen, Glanzbilder ausgesucht, Glückspfennige in die Ecke geklebt, ja sogar ganze Briefchen. Von Dufttinte über die Herzen statt i-Punkten bis hin zu selbst getrockneten Blumen. Der Tintenkiller wurde nur tupfend zum Einsatz gebracht und Schreibfehler kamen sowieso einem Todesurteil gleich. Die Poesiealben Ende Mitte/Ende der 80er Jahre waren ein Sammelsurium an Kunst und Kitsch. Glanzbilder mit Glitzerflimmer, Staraufkleber aus der Bravo und doppelte Panini-Bilder. Abgepauste Disneyfiguren und handgezeichnete Pferdeköpfe, eine Unmenge von Herzen und Sternen. Meist hat man an der Ausschmückung seines Beitrags länger gearbeitet als am Sprüchlein.
Vor einiger Zeit habe ich nach alten Kinderreimen gesucht, die man bis ins Erwachsenenalter nicht vergisst. Dabei ist meiner Schwiegermutter ihr altes Poesiealbum eingefallen und sie hat es mir mitgegeben. Lustigerweise sind in diesem alten Buch einige Sprüche eingetragen, die auch in meinen Alben zu finden waren. Diesen hier kennt wohl jeder:
Sei wie ein Veilchen im Moose,
sittsam, bescheiden und rein
und nicht wie die stolze Rose,
die immer bewundert will sein.
Fanden wir damals diese Gedichte sehr schön, leicht zu merken oder einfach nur seltsam, betrachten wir diese Inhalte und Aussagen doch mit anderen Augen. Ob sie wohl zu denjenigen passen, denen man sie in die Poesiealben geschrieben hat? Ein bescheidenes Veilchen im Moose. Gewiss, ein guter Vorsatz, doch was spricht eigentlich gegen die Rose?
Oder…
Du bist wie eine Blume, so ruppig und so rau,
dass ich die Distel meine, das weist du ganz genau.
Du brauchst dich nicht zu grämen, weil du ne Distel bist.
Es kommt auch mal ein Esel, der gerne Disteln frisst.
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